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"Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst" - Juliane Werdings Songtitel beschreibt für mich etwas, dass uns immer wieder passiert – wir denken, dass wir denken.
Wenn wir nun nicht denken, was ist es dann, was wir oftmals für Denken halten?
Ich möchte einen kurzen Ausflug machen, um zu verdeutlichen, wo für mich der Unterschied liegt.
Wir alle haben Emotionen (lat. emovere = herausbewegen).
Emotionen, und hierfür gibt es keine einheitliche, eindeutige Definition, sind körperliche Reaktionen, die wir mal mehr, mal weniger deutlich spüren:
unser Herzschlag kann sich beschleunigen, uns wird schwindelig, wir erröten, wir fühlen uns kribbelig, uns ist heiß, haben einen Kloß im Hals, ...
Auslöser unserer emotionalen Reaktionen – ein Lied, ein Geruch, eine Stimmlage, ein Blick, eine Begegnung, der Wind, Regen, die Sonne, die Mimik unseres Gegenübers oder die Gestik der Person am Nachbartisch, ...
Oftmals ist uns gar nicht bewusst, was genau und warum überhaupt, uns etwas emotional bewegt.
Denn letztlich reagieren wir auf alles in unserer Umwelt, unserem Umfeld. Oft ist es jedoch so leise, dass wir es nicht bewusst wahrnehmen und dennoch sind sie (immer) da.
Mit Aufkommen der Sprache konnten wir unser emotionales Erleben mithilfe von Worten anderen (und uns selbst!!!) mitteilen.
Wir können (uns) eine Erklärung für unseren schnelleren Herzschlag geben – Ich bin verliebt, nervös, ängstlich, aufgeregt, angespannt, weil ...
Diese in Worte gefassten Emotionen verstehe ich als GEFÜHLE.
Doch ist die Erklärung die wir uns zu unseren Emotionen geben auch "richtig"?
Welche Geschichte erzählen wir uns, und vielleicht auch unseren Freunden? Wobei es natürlich entscheidender ist, was wir uns selbst erzählen, was unsere "Wahrheit" ist. Denn diese "Wahrheit" ist die Grundlage unserer Entscheidungen, unseres Handelns, unserer Gedanken.
Interessant dazu: Das "Brücken-Experiment"
Wenn Sie mehr dazu wissen wollen, einfach mal im Netz nachschauen.
Sicher ist, und das sollten wir nicht vergessen, dass wir nur in der Lage sind uns Geschichten zu erzählen, die mal mehr, oftmals jedoch weniger der Realität nah kommen.
Das wird auch so sein, wenn wir nachdenken, denn DIE Wahrheit gibt es nicht. Doch wenn wir uns nicht für das Nachdenken entscheiden, dann ist die Chance, dass die Geschichte ein Märchen ist, und so gut wie nichts mit der Realität zu tun hat, um einiges höher.
Denn wir interpretieren automatisch Situationen aufgrund unserer Erfahrungen, die alle in unserem Gehirn "abgespeichert" sind.
Und da sind es besonders die Erfahrungen, die wir in ganz jungen Jahren gemacht haben, die unsere Interpretationen, unser Geschichten prägen.
Damals war unser Gehirn noch längst nicht "fertig" (das ist es erst weit nach unserer Volljährigkeit, etwa mit 30 Jahren!). Es konnte daher alles Erleben nur wie ein Schwamm aufsaugen und musste es ungeprüft ablegen.
Mit diesen von uns zumeist ungeprüften Verhaltens-, Reaktions-, Gefühlmustern bewegen wir uns nun durch unser Leben – der Autopilotmodus.
Automatisch bewerten wir Situationen, aufgrund von alten Erfahrungen. Doch dazu an anderer Stelle mehr.
Ein Beispiel:
Gestern, ich bin gerade im Urlaub, war ich mit einer Urlaubsfreundin, nennen wir sie Sofia, einem gemeinsamen Bekannten, Swen, und noch zwei weiteren, uns unbekannten Personen in einem Restaurant.
Es war eine entspannte Runde, wir hörten das Meer rauschen, das Gespräch fiel leicht, es wurde gelacht und lecker gegessen. Nach dem Essen wurde das Gespräch ernsthafter, auch das darf im Urlaub mal sein, und bis auf eine Person beteiligten sich alle daran.
Plötzlich sprang Swen auf und meinte, dass er schnell mal wegmüsse, aber gleich wiederkomme. Die Runde löste sich auf, denn auch die bis dahin schweigsame Person stand abrupt, ohne ein Wort zu sagen auf und zahlte. Ein durchaus ungewöhnliches Ende eines bis dahin gelungenen Abends – könnte man meinen.
Das jedenfalls meinte Sofia. Völlig verunsichert sagte sie mir, dass sie das Gefühl hat, dass man sie nicht möge, sie sich sicher ist, etwas Falsches gesagt zu haben, sie wohl mal wieder zu "laut“ war.
Mit dieser, IHRER Geschichte, verließ sie das Restaurant.
Sich "schuldig“ fühlend, verantwortlich dafür, dass ein schöner Abend unschön geendet ist, hebt eben nicht die Stimmung, wenn man meint ("denkt"), dass man der Auslöser war.
Im Gegenteil: Sofias Stimmung war sichtbar im Keller, der weitere Abend für sie kein fröhlicher mehr. Verständlich! Oder?
Wie würde Ihre Geschichte in dieser Siuation aussehen?
Ähnlich? Oder doch ganz anders?
Alleine, dass Sie jetzt vielleicht sich über Sofias Geschichte wundern und sie so nicht wirklich nachvollziehen können, zeigt, dass es zig verschiedene Interpretationen ein und derselben Situation gibt.
Und da wir eh interpretieren müssen, wozu dann nicht so,
dass sie für uns "positiv“, zumindest jedoch "neutral“ ist?
Macht es Sinn, dass Sofia glaubt, dass sie so viel (negativen) Einfluss auf Menschen nehmen könne, die sie kaum kennt. Wieso bezieht sie alles auf sich? Ich saß schließlich auch noch am Tisch! ;-)
Hätte nicht jeder die Chance gehabt zu äußern, wenn ihm etwas nicht passt, er lieber über etwas anderes reden möchte? Und liegt es dann nicht in deren Verantwortung, wenn sie es nicht tun, und lieber "flüchten"?
Und die Frage, die vielleicht am wichtigsten ist:
Wie viel Bedeutung haben diese Menschen letzlich für ihr Leben? Wäre es wirklich schlimm, wenn sie von ihnen nicht gemocht wird.
Hier fängt für mich das eigentliche DENKEN an.
Alle anderen "Gedanken“ vorher: "Die mögen mich nicht. Ich war mal wieder zu laut.“, ist für mein Verständnis kein (Nach-)Denken.
Es sind einfach "nur" Worte für unsere Emotionen, die wir im Kopf haben. Es ist das, was wir meinen, vermuten, glauben, jedoch niemals wissen.
Gedanken haben und Gedanken machen,
ist ein kleiner und doch entscheidender Unterschied!
Denn auch: "Ich habe doch dieses Mal viel weniger gesagt als sonst. Außerdem hat Janka viel mehr geredet...“, also Erklärungen oder Rechtfertigungen zu seiner Geschichte zu finden, läuft mehr automatisch ab, als dass wir uns bewusst darum bemühen, die Situation realistisch(er) zu betrachten.
Realistisch kann auch bedeuten, dass wir uns eingestehen bzw. akzeptieren, dass wir nicht wissen, aus welchen Gründen der eine sehr schweigsam war und der andere plötzlich gegangen ist.
Uns nichts anderes übrig bleibt, als abzuwarten, Geduld aufzubringen, bis wir (vielleicht) eine Erklärung von den betroffenen Personen bekommen.
Wir das unangenehme Gefühl, hier das "sich schuldig fühlen", aushalten. Denn einen "Aus-Knopf“ gibt es für Gefühle (leider) nicht, ebenso wenig wie es einen "An-Knopf“ gibt. Uns darum bemühen nicht aus dem Gefühl zu handeln.
Zunächst sichr nicht ganz so einfach, doch mit etwas Übung gelingt es immer besser!
Laufen, Fahrrad fahren, schwimmen, lesen, schreiben, rechnen - all das haben wir auch nicht über Nacht gelernt.
Nicht immer auf sein Gefühl zu hören hat den Vorteil,
dass wir neue Erfahrungen zulassen und nicht immer wieder aus denselben Gefühlsmustern agieren.
In diesem Falle erfolgte die Aufklärung schon am nächsten Tag:
Es war einfach so, dass der Schweigsame frisch getrennt ist und einfach etwas sentimental wurde, seinen Gedanken nachhing und etwas Zeit für sich brauchte.
Swen wollte eigentlich nur schnell etwas für einen Freund aus dem Hotelzimmer holen und sofort zurückkommen. Wurde dann aber von Freunden, die in einem anderen Restaurant saßen, aufgehalten. Wir sollten zahlen und ebenfalls dahin kommen. Doch diese Nachricht erreichte uns nicht. Wofür er sich wiederholt entschuldigte. Ihm war es unangenehm, dass er uns hat "sitzengelassen".
Dieses Beispiel zeigt, dass Sofias Geschichte in die Welt der Märchen gehört, mit der Realität Null Komma Null übereinstimmte. Ihr Gefühl in dieser Situation nicht angemessen war. Sie hat sich selbst völlig umsonst den weiteren Abend vermiest. Schade...
Wie Sie jetzt vielleicht völlig zurecht anmerken, können Gefühle nicht "falsch" sein. Sie sind nun mal da, wir haben sie. Sie kommen ganz automatisch, ohne dass wir zunächst etwas dagegen machen können. Dennoch können sie nicht angemessen sein und da haben wir Möglichkeiten das zu (ver-)ändern.
Unsere Gefühle können uns für die aktuell vorliegende Situation eine falsche Geschichte, ein Märchen erzählen.
Besonders wenn wir uns unwohl fühlen (denn gerade dann, ist die Wahrscheinlichkeit für ein Märchen recht hoch), macht es Sinn, wenn wir uns zurücklehnen (können), um durchzuatmen und kurz einmal unsere Geschichte zu überprüfen:
Gibt es einen eindeutigen "Beweis", dass sie mich nicht mögen?
Hat einer der anwesenden Personen etwas in der Richtung geäußert? Nein!
Okay, dann kann es genauso gut, wenn nicht sogar wahrscheinlicher sein, dass mein Gefühl mich täuscht und ich lieber eine Geschichte nehme in der sie mich mögen und etwas anderes der Grund für dieses aprubte Ende des Abends ist.
Und seien wir mal ehrlich -
so kreativ können wir oftmals gar nicht sein, als dass wir den tatsächlichen Grund
für das Verhalten anderer Menschen richtig erraten.
Daher:
Nur weil wir Worte im Kopf haben, heißt es noch lange nicht, dass wir tatsächlich DENKEN.
Es geht um das Denken, wie der Duden es mit: "die menschliche Fähigkeit des Erkennens und Urteilens anwenden; mit dem Verstand arbeiten; überlegen" beschreibt - Gedanken machen.
Und nicht um die weitere Wortbedeutung des Denkens, im Sinne von: "annehmen, glauben, vermuten, meinen" - Gedanken haben.
("denken" Duden online Stand 07.10.2023)
So ist das aber nun mal mit der Sprache. Auch sie hat ihre Grenzen. Ein Wort und verschiedene, zum Teil völlig konträre Bedeutungen - Hornhaut, Weizen, Bank, Krebs, Tau, Bauer, Fliege, umfahren, Hahn, Strom, Ton, Kiefer, Bart, Futter, Gericht.
Vielleicht kennen Sie das Spiel noch von früher: Teekesselchen raten. Spannend ist, welches Bild Sie als erstes im Kopf haben, wenn Sie ein Wort lesen und ob Ihnen sofort die zweite Wortbedeutung in den Sinn kommt.
Es ist an uns, zu unterscheiden, den Unterschied zu erkennen,
ob wir denken oder denken.
Schauen Sie doch einfach bei Gelegenheit mal genauer hin, wenn Sie denken.
AUGUST 2023