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Tina, ich lernte sie in einem Urlaubsort in einer beliebten Bar am Abend kennen. Sie stand am Rande und wusste ganz offensichtlich nicht wohin mit sich. Man sah ihr deutlich an, dass sie sich nicht wohl in ihrer Haut fühlte.
Ich weiß nicht mehr genau wieso, doch wir kamen ins Gespräch und sie erzählte mir, dass sie eigentlich mit zwei Freundinnen im Urlaub war, doch sie sich so zerstritten haben, und dass sie nun wohl oder übel alleine den weiteren Urlaub verbringen musste.
Alleine! Für Tina eine völlig neue Situation. Zu Hause ist sie nie alleine unterwegs, weder ins Café, noch geht sie allein auf eine Feier und auf die Idee allein in den Urlaub zu fahren, wäre sie sich schon gar nicht kommen. Und nun das – mit über 50 Jahren plötzlich alleine im Urlaub.
Ich habe mich für sie gefreut. Ehrlich!
Eine unerwartete Chance etwas Neues auszuprobieren, das man freiwillig nie gemacht hätte. Weil man es sich nicht vorstellen kann, gar nicht erst auf die Idee gekommen wäre, Angst hat, es sich nicht zutraut, oder, oder, oder.
So ungefragt ins kalte Wasser geschubst zu werden kann ein Geschenk sein, wenn man es als ein solches erkennt und es dann auch annehmen kann.
Und genau das sagte ich ihr. Erntete allerdings zunächst einen ungläubigen Blick von Tina. Ein Geschenk? Doch dann verstand sie.
Wie viel Freiheit gewinnen wir, wenn wir nicht mehr darauf angewiesen, davon abhängig sind, dass jemand nicht nur Zeit für einen hat, sondern auch Lust auf die gleiche Unternehmung wie man selber.
Wieso unternehmen wir etwas mit jemanden, mit dem wir eigentlich nicht so wirklich harmonieren, mit dem wir nicht auf einer Welle sind, die Chemie nur bedingt passt?
Die Frage, wieso wir mit Menschen zusammenleben, auf die das ebenso zutrifft, verschiebe ich auf ein anderes Mal.
Wir machen es, weil wir eben nicht alleine ins Kino, ins Restaurant, in die Ausstellung, auf das Konzert, ... gehen können. Sagen uns jedoch oftmals, dass wir es auch gar nicht „wollen“ würden. Sicher...
Wir glauben, dass wir es nicht können, obwohl wir mittlerweile erwachsen sind, damit eigentlich unabhängig, auf unseren eigenen Beinen stehen, Kinder erziehen, Geld verdienen, ...
Ist dann mal keiner da, der einen begleiten kann, bleibt man eben zu Hause.
Doch ist das wirklich eine echte Alternative?
Oder nicht doch nur eine Notwendigkeit?
Ist es zu Hause wirklich (???) besser, wenn man eigentlich gerne auf das Konzert, auf die Party, ins Restaurant lecker essen gegangen wäre.
Verbringt man lieber den Urlaub bei Regen (der Sommer 2023 lässt grüßen) in den eigenen vier (bekannten) Wänden, weil niemand Zeit und / oder Geld hat mit in den Urlaub zu fahren?
Und verbringt man dann ernsthaft gerne die „schönste Zeit des Jahres“, den Urlaub, mit Menschen, die eigentlich nicht zu Freunden oder zumindest echt guten Bekannten gehören?
Meist ahnen wir doch bereits im Vorfeld, dass man seinen Urlaub nicht so verbringen wird, wie man eigentlich gerne würde.
Und ja, all das und noch viel mehr machen wir tatsächlich, wenn wir glauben nicht alleine etwas machen zu können.
Wenn wir meinen, dass wir (irgend-)jemanden an unserer Seite brauchen.
Wenn wir wissen, dass wir uns eben unwohl fühlen, sollten wir aus Versehen irgendwo doch mal alleine sein.
Vor allem machen wir oftmals etwas nicht, ohne dass wir es zuvor jemals ernsthaft ausprobiert haben. Zum Beispiel etwas alleine zu unternehmen – so wie Tina.
Ihr kam es nie in den Sinn, alleine essen zu gehen, geschweige denn nur mit sich im Gepäck in den Urlaub zu fahren. Denn irgendwer findet sich oder, wenn doch nicht, findet man es ja auch zu Hause total toll. Der Kleiderschrank will schon seit langem ausgemistet werden. Es könnte auch mal gründlich geputzt oder in Ruhe ein Buch gelesen, Freunde besucht werden.
Das oder Ähnliches erzählen wir uns (und glauben es!), wenn der Gedanke alleine etwas zu machen, für uns so abwägig ist, dass er uns vermutlich gar nicht erst kommt oder sofort weggewischt wird.
In unserer Gedankenwelt bewegen wir uns zumeist in den Gegenden, von denen wir wissen, dass wir uns in ihnen wohlfühlen, sprich die wir können.
Autopilotmodus - Wir bewegen uns (gedanklich) eher auf den uns bekannten (und damit auch gefühlt sicher(e)n) Wegen.
Jetzt fahre ich unheimlich gerne alleine in den Urlaub und zählte Tina all die Vorteile auf. Sicher, es gibt immer Situationen, in denen es schöner wäre, wenn wir mit dem Partner den Sonnenuntergang erleben statt alleine. Mit dem Freund oder der Freundin Essen gehen, statt allein am Tisch zu sitzen.
Doch dafür müssen wir andererseits nicht mühsam Kompromisse finden, zum x-ten Mal warten, diskutieren, zurückstecken, wenn wir einfach mit irgendwem unterwegs sind.
Tina hatte jetzt zwei Möglichkeiten:
1. Sie konnte sich selbst bemitleiden und auf die ach so doofen „Freundinnen“ schimpfen (siehe Lesestoff „Wetter“) oder
2., dass ihr unerwartet überreichte Geschenk annehmen und auspacken.
Sicher kostet es etwas Mut, sich in eine neue Situation zu begeben, doch gepaart mit Neugier und Vorfreude kann es Spaß machen neue Seiten an sich zu entdecken, seine Welt zu vergrößern, zu wachsen, unabhängiger, freier zu werden.
Tina hat sich eingelassen. Sie hat sich entschieden, ihren vermeintlichen Freundinnen dankbar für das ihr unverhofft überreichte Geschenk zu sein. Mit dieser Einstellung konnte sie den Streit (erst einmal) stehen lassen, denn eine Lösung war gerade nicht in Sicht.
Zudem hatte sie nun auch Seiten an ihnen kennengelernt, über die sie erst noch mal in Ruhe, nach IHREM Urlaub, nachdenken wollte. Sich jetzt weiter zu ärgern wäre verschenkte Energie. Diese nutzte sie nun lieber für sich selbst, indem sie sich vornahm das Alleine sein zu „üben“.
Sie fühlte sich anfänglich nicht wohl, was für neue Situationen einfach auch völlig normal ist. Doch sie hatte sich nun mal entschieden! Zunächst war sie noch etwas unsicher, quasi etwas „wackelig auf den Beinen“, die ersten Schritte zögerlich.
Doch nur wegen eines lange erlernten Gefühls aufgeben? Nein! Sie wollte jetzt ernsthaft herausfinden, ob sie „alleine“ kann und vielleicht sogar das Alleinsein mag und MACHTe.
Sie ging alleine an den Strand, aß alleine zu Abend und ging auch alleine in die Disco. Okay, ganz alleine war sie nicht immer, denn sie lernte tolle neue Leute kennen.
Sie unterhielt sich angeregt, hatte Spaß und genoss nach und nach immer mehr, dass sie für sich entscheiden konnte, wonach ihr gerade ist.
Aufstehen, wann sie wollte, am Strand liegen solange sie wollte, die Wahl, wo zu Abend gegessen wird oder ob man einen Ausflug macht, nun ohne Diskussionen oder Kompromisse.
Woher ich das alles weiß?
Ich habe Tina knapp drei Monate später wiedergetroffen. Wo? Im gleichen Urlaubsort, in dem sie dieses Mal ganz bewusst alleine Urlaub gemacht hat, weil es ihr allein wider Erwarten so gut gefallen hat. Also gleich noch mal!
Einen Umstand, den sie fast 50 Jahre nicht für möglich gehalten hat und nun überglücklich ist, so viel mehr (Entscheidungs-)Freiheit in ihrem und für ihr Leben erlangt zu haben.
Denn wer alleine in den Urlaub fahren kann, geht auch allein auf ein Konzert, ins Café, ins Restaurant, auf eine Party, wenn mal Freunde oder wirklich gute Bekannte keine Zeit haben oder auch, weil man es einfach alleine genießen will. Ein schönes Gefühl, wenn man sich auch ab und an mal selbst genug ist.
Sicher, ein wenig Übung und manchmal auch etwas Überwindung braucht es, damit sich neue Gewohnheiten entwickeln (können). Nach drei Klavierstunden können wir auch nicht den Türkischen Marsch spielen, (vermutlich) auch noch nicht nach 10 Übungseinheiten.
Doch wenn wir etwas ernsthaft wollen, sind wir motiviert und bleiben am Ball. Werfen nicht sofort die Flinte ins Korn, weil etwas nicht auf Anhieb klappt. Sie erinnern sich ans Laufen, Fahrradfahren, Schwimmen, Lesen lernen?!
Das Ziel ist nicht, (fast) alles alleine machen zu wollen.
Das Bedürfnis nach Gesellschaft ist bei uns unterschiedlich ausgeprägt. Doch im „Notfall“ eine weitere Option zur Verfügung zu haben, die eben nicht beinhaltet faule Kompromisse eingehen zu müssen bzw. sich mit Menschen zu umgeben, die mehr Energie ziehen, als dass sie uns welche geben, kann für uns, für unser Leben nur von Vorteil sein.
Jetzt können wir auf solche Geschenke warten oder uns ganz bewusst für Neues entscheiden, im Kleinen, wie im Großen.
Nach meiner Erfahrung sind es jedoch die eher kleinen, manchmal etwas versteckten Pfade, die wir beschreiten können, die einen Stück für Stück wachsen und nach und nach freier werden lassen.
Und diese finden wir jederzeit in unserem Alltag:
Dem Kellner zu sagen, dass das Essen versalzen ist. Der Freundin, dass man heute keine Zeit für sie hat. Dem Arbeitgeber, dass man nicht länger bleiben kann.
Seinem Auto selbst Starthilfe geben (Google erklärt es prima!), die Wäsche selbst zu waschen (wer ein Smartphone benutzen kann, wird an einer Waschmaschine nicht scheitern - versprochen) und Hemden auch mal selbst zu bügeln (das macht vielleicht nicht so viel Spaß, kann aber jeder – ebenfalls versprochen).
Mal keine Zeit zu haben, die Freunde nach Hause zu fahren oder für die Organisation der Klassenfeier, nicht die Geschenke zu kaufen für die ganze Familie, mal gekauften Kuchen zu servieren, anstatt der von allen geliebten selbstgebackenen Sahnetorte.
Einfach mal „NEIN“ sagen.
Oder „JA“ - eben einfach mal genau das Gegenteil von dem machen, was man normalerweise macht.
Eigentlich ganz einfach, oder?
Aber irgendwie dann doch auch nicht, oder wieso versuchen wir es so selten? Machen oftmals immer wieder das Gleiche, auch wenn wir mit dem Ergebnis unzufrieden sind, nicht das erreichen, was wir eigentlich erreichen wollen. Unsere (Lebens-)Zeit für andere ungeprüft hergeben. Daher:
Einfach mal einfach was ander(e)s zu machen, kann Spaß machen!
Probieren Sie es aus... Vielleicht gleich, einfach mal so.
An dieser Stelle einen ganz lieben Gruß an Tina, die natürlich nicht Tina heißt, doch Du wirst wissen, dass Du gemeint bist. Ich freue mich so sehr, dass du unser kurzes Gespräch für Dich so hast für nutzen können!
SEPTEMBER 2023