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Ich habe auf meinem Weg eine Frau kennengelernt, die mich sehr inspiriert hat:
Prof. Regine Reichwein.
Leider nicht persönlich, doch ihre Vorträge, die auf YouTube veröffentlicht sind, habe ich regelrecht verschlungen. Und ein Aspekt hat es mir besonders angetan:
"Menschen sind wie Wetter.“
Ebenso wenig, wie wir das Wetter direkt beeinflussen können, können wir dieses bei anderen Menschen. Was gleichfalls bedeutet, dass niemand uns direkt beeinflussen kann. Jeder Versuch ist zum Scheitern verurteilt und Verschwendung unserer Zeit und Energie!
Mit vorgehaltener Schusswaffe sieht das natürlich etwas anders aus.
Allerdings gehe ich davon aus, dass Sie nicht zu den Personen zählen, die derart illegale Methoden nutzen, um ihre Ziele zu erreichen.
Und auch wenn wir vielleicht manchmal das Gefühl haben, dass jemand uns sprichwörtlich "die Pistole auf die Brust setzt“, haben wir immer noch selbst in der Hand, was wir letztlich tun, oder eben lassen. Es ist und bleibt unsere Entscheidung.
Denn es ist wieder mal "nur“ ein Gefühl das uns beschleicht. Lediglich eine Geschichte und eben keine echte tötliche Waffe. Die Pistole existiert ausschließlich in unserer Vorstellung. Daher: Wir MÜSSEN nichts, außer...
Schon als Kleinkinder haben wir unseren eigenen Kopf und wissen diesen oftmals auch, wenn nötig lauthals, durchzusetzen. In den ersten Lebensjahren regiert uns das "Es" (Herr S. Freud lässt grüßen), das Lustprinzip. Alles was uns keine Lust bereitet kommentieren wir - egal wo, lauthals, schrill und mit einem beeindruckenden Durchhaltevermögen.
Allerdings sind wir als (Klein-)Kinder noch von anderen Menschen abhängig. Wir brauchen sie, um zu überleben. Daher MÜSSEN wir uns tatsächlich zunächst den Größeren fügen, um etwas zu essen zu bekommen, Kleidung, (liebevolle) Zuwendung und Beachtung.
Dafür müssen wir Dinge machen, auf die wir mal so gar keine Lust haben – die Windeln gewechselt bekommen, früh schlafen gehen, im Kinderwagen sitzen, Schuhe anziehen, Zähneputzen, Zimmer aufräumen, Hausaufgaben, kein Eis bekommen, ...
Manches davon, und das können wir nun in jungen Jahren nicht wissen, ist für das Selbständigwerden tatsächlich wichtig. Manches auch, um groß und stark zu werden, Spinat zum Beispiel (am liebsten mit Fischstäbchen und Pü!)
Denn auch wenn wir schon auf unseren eigenen Füßen stehen können, stehen wir noch nicht "mit beiden Beinen im Leben“. Und wir wissen, wenn unsere Füße noch unter dem Tisch unserer Erziehungsberechtigten sind, haben wir uns zu fügen.
Müssen wir etwas machen, was wir eigentlich aus eigenem Antrieb nicht machen würden, auch weil wir vielleicht einfach nur (noch nicht) den Sinn dahinter (er-)kennen, handeln wir ohne Lust und unsere Gefühle sind entsprechend. Und das gilt, egal in welchem Alter wir sind.
Mama ist doof, wenn wir erst nach den Hausaufgaben zum Spielen nach draußen dürfen. Papa voll gemein, wenn er kein Fernsehen (oder am Handy zu sein) erlaubt. Die Lehrer ungerecht, weil sie trotz schönem Wetter so viele Hausaufgaben aufgegeben haben. Steven, eigentlich der beste Kumpel, ist total blöd, weil er einen nicht mit seinem neuen Fahrrad fahren lässt.
Schuld sind also sehr oft Andere,
wenn wir in einem für uns unangenehmen Gefühlszustand kommen.
Wie eben die doofe Mama, der gemeine Papa oder der ungerechte Lehrer. Vom blöden Steven ganz zu schweigen. Opfer zu sein, während andere automatisch zu Tätern werden, lernen wir sehr früh und behalten es zumeist bei. Gelernt ist halt gelernt.
Und je älter wir werden, desto mehr „Schuldige“ (Täter) kommen dazu:
der Arbeitgeber, die Politik, das Wetter, die nasse Straße (nein, wir sind natürlich nicht zu schnell gefahren und haben deshalb einen Unfall gebaut), nicht zu vergessen der Wecker, der einfach nicht geklingelt hat, usw.
Schwierig wird es auf jeden Fall immer dann, wenn die „Täter“ keine für uns greifbaren Personen sind. Wenn es denn überhaupt welche sind.
Auf das Wetter, den Wecker oder die Politik kann ich lange schimpfen, ihnen endlose Vorträge halten... Sie ahnen es: Es wird sich nichts (für uns) ändern.
Es ist daher egal wie sehr ich meine kostbare Energie dafür aufwende ihnen die Schuld zu geben, der beanstandete Ist-Zustand wird bleiben – das Wetter macht was es will, der Wecker klingelt nicht, wenn ich ihn nicht stelle.
Jetzt sind wir jedoch nicht nur (machtlose) Opfer. Ohne es zu wollen werden wir auch zu Tätern. Denn wir bekommen ebenso beigebracht, dass wir für die Gefühlszustände Anderer verantwortlich sein können:
Mama wird traurig, wenn du deine Zähne nicht putzt oder Papa ist enttäuscht, wenn du in Englisch keine Eins nach Hause bringst. Die Freundin ist sauer, wenn du nach der Schule keine Zeit für sie hast, der Partner verletzt, wenn du ihm nicht genügend Aufmerksamkeit schenkst:
"Du machst mich ..., wenn du ... (nicht) machst.“
Und beides – dass jemand anderes für unsere Gefühle verantwortlich ist, und dass wir gezielt bzw. absichtlich konkrete Gefühle in anderen auslösen können – halte ich für unmöglich.
So viel Macht haben wir über andere Menschen einfach nicht und andere Menschen auch nicht über uns.
Papa muss nicht zwangsläufig enttäuscht sein, wenn ich in Englisch wieder einmal keine Eins schreibe. Es gibt glaube ich kein Naturgesetz das besagt, dass Väter enttäuscht sein müssen, wenn das Kind keine Eins im Englisch-Test schreibt.
Was habe ich also mit Papas Gefühl der Enttäuschung zu tun, wenn es kein Naturgesetzt ist? Und ich gehe davon aus, dass Sie mir zustimmen, dass es das nicht ist.
Es ist einzig und allein seine "Entscheidung“ wie er mit der Zwei, die ich geschrieben und über die ich mich hingegen sehr gefreut habe, umgeht. Es liegt nicht in meiner Macht, welches Gefühl in ihm aufkommt. Nur er kann sich für ein anderes Gefühl "entscheiden“.
Zumindest könnte Papa sich dafür entscheiden, sein Gefühl der Enttäuschung beiseitezustellen und sich einfach mit mir freuen.
Weil er weiß, dass ich viel gelernt und mein Bestes gegeben habe. Er mich motivieren möchte, am Ball zu bleiben. Vielleicht auch, weil er ahnt, dass seine Enttäuschung eigentlich nichts mit meinen Noten zu hat.
Denn, es gibt ebenfalls kein Naturgesetz das besagt, dass wir unbedingt aus unserem Gefühl handeln müsssen. Wir, und nur wir selbst, können uns dagegen entscheiden!
Vielleicht gelingt es uns nicht immer sofort und sicher ist es auch nicht immer einfach (auch hier gilt: "Übung macht den Meister."), oftmals jedoch sehr sinnvoll.
Es spricht nichts dagegen sein Gefühl zu äußern: "Wenn ich länger als eine Stunde auf eine Antwort von dir warten muss, merke ich, wie ich anfange mich zu ärgern. Ich weiß jedoch, dass du dein Handy oft nicht bei dir hast und du sofort reagierst, wenn du meine Nachricht siehst. Keine Ahnung, ich möchte mich eigentlich nicht ärgern. Doch es fällt mir wohl schwer Vertrauen zu fassen."
Klingt doch irgendwie besser, als: "Wo warst du schon wieder? Ich habe dir vor einer Ewigkeit (61 Minuten) geschrieben? Kannst du nicht öfter mal auf dein Handy schauen!!! Was, wenn es jetzt wirklich wichtig gewesen wäre???"
Wenn wir im Miteinander, egal ob in Freund- oder Partnerschaften, unter Kollegen oder mit unseren Nachbarn, es schaffen Folgendes zu beherzigen:
Wir sind nicht für die Emotionen und Gefühle anderer verantwortlich
und besonders,
niemand ist für unser emotionalen Reaktionen und den daraus resultierenden Geschichten verantwortlich.
Dann werden wir nicht nur wertvolle Energie und Zeit (die wir ggf. anderweitig sinnvoller nutzen könnten) einsparen, sondern wir werden ein hohes Maß an Unabhängigkeit / Freiheit und auch Macht für und in unserem Leben erlangen.
Denn es ist der Ausstieg aus dem, uns selten weiterbringenden und für alle Seiten wenig hilfreichen Täter-Opfer-Kreislauf.
Darauf zu hoffen, dass von allein etwas passiert? Ein Kreislauf hat gemäß seiner Natur nun mal kein Ende, so dass er auch keines ohne unser Zutun nimmt. Daher:
Selbst die Verantwortung für unsere Gefühlswelt übernehmen und die Verantwortung für die Gefühle der Anderen bei ihnen zu belassen.
Nun kann es zu einem Miteinander auf Augenhöhe kommen, wenn man das denn möchte.
SEPTEMBER 2023